Text im Ausstellungskatalog:
Der Künstler im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
    von Michaela Lechner
Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, erschienen im Jahr 1936, zählt sicher zu den bekanntesten Texten zur Kunstsoziologie. Dass er auch heutzutage noch rezipiert und diskutiert wird, mag an seinem visionären Charakter liegen. Denn angesichts der vorwärtspreschenden Medien Photographie und Film malt Benjamin sich aus, was einem originären, singulären Kunstwerk wohl passieren könne, wenn es sich massenhaft reproduzieren ließe.Er spekuliert darüber – den bedrohlich nahegerückten Faschismus im Nacken – wie sich eine massenhafte Kunst-Produktion auch für eine Produktion von Masse/Gesellschaft und zur Lenkung derselben funktionalisieren ließe.
68 Jahre später: Multiples von und über Joseph Beuys versammeln sich in der Ausstellung "Schrift Bilder Denken: Walter Benjamin und die Kunst der Gegenwart". Objekte, Plakate, Postkarten für und über die Reproduktion stellen sich in Bezug zu einem Autor und einem Aufsatz, die sich multiple Existenzen bereits gedacht haben. Als habe Walter Benjamin in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit geradezu vorausgeahnt, was Joseph Beuys einmal methodisch betreiben sollte.
Auch bei gutwilligster Aufpropfung, ein Beuyssches Multiple ist sicher kein Kunstwerk im Benjaminschen Sinn: kein einmaliges Dasein, kein singuläres Hier und Jetzt, kein unverrückbarer Standort, sondern ein erklärtermaßen zur Vervielfältigung bestimmtes Objekt, vorgesehen für ein massenweises Vorkommen. Und doch durchschatten Benjamins Begrifflichkeit und Prophezeihungen rund um das Kunstwerk ausgerechnet die Multipleproduktion eines Joseph Beuys.

Walter Benjamin: "Die Reproduktionstechnik, so ließe sich allgemein formulieren, löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab. Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vorkommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte."
Mit seinen Multiples nutzt Beuys die Möglichkeit und Möglichkeiten der technischen Reproduzierbarkeit geradezu ungeniert, um Ideentransporteure zu kreieren und in die Welt zu senden. Ein Hin und Her eben, anstelle von Hier und Jetzt. Für Beuys ist ein Multiple eine "Erinnerungsstütze, für den Fall, dass in der Zukunft etwas anderes kommt" und eine "Antenne, die irgendwo steht, mit der bleibt man in Verbindung." Massenweise vervielfältigt können Beuys Antennen allerorten stehen und in Situationen geraten, "die dem Original selbst nicht erreichbar sind" (Walter Benjamin), um dort denkanstoßend zu wirken – mit vergrößerter Reichweite und verstärkter Sendeleistung.
Joseph Beuys: "Ich bin an der Ausbreitung von Ideen interessiert, die die politische Veränderung ins Blickfeld nehmen oder an der Ausbreitung philosophischer Erkenntnisse, die ebenfalls eine Veränderung des Menschen in der Zukunft ins Blickfeld nehmen." 
  
Walter Benjamin: "Das reproduzierte Kunstwerk wird in immer steigendem Maße die Reproduktion eines auf Reproduzierbarkeit angelegten Kunstwerks. (...) In dem Augenblick aber, da der Maßstab der Echtheit an der Kunstproduktion versagt, hat sich auch die gesamte soziale Funktion der Kunst umgewälzt. An die Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundierung auf eine andere Praxis: nämlich ihre Fundierung auf Politik."
Multiples von Beuys, das sind multiplizierte Statements über den Zustand der Welt, vervielfältigte Aufforderungen zum Nach/Vor/Mitdenken, Aufrufe zur Weltveränderung. Manchmal unbequem, wenn man sie auf dem Hals oder an der Wand hat. Beuys selbst beschreibt seine Multiples dementsprechend als "Vehikel", die Inhalte transportieren, die sich wiederum mit neuen Inhalten überlagern: Das Multiple als "Kondensationskern, an dem sich viele Dinge ansetzen können".

Einmaligkeit? Nein, danke! – signalisiert die Vervielfältigungskunst à la Beuys, und doch schaffen es viele Multiples, created by Beuys, einer "Zertrümmerung der Aura" [WB8], jenem Schicksal zu entkommen, das WB dem massenhaft reproduzierten Kunstwerk vorhergesagt hat. Denn Beuys, der Schlingel, schreibt das Auratische, Lufthauch und Lebensluft zugleich, oftmals geschickt in seine Massenprodukte ein: indem er signiert, was ihm vor die Finger kommt. Stempeln, Datieren, Numerieren und Signieren – all das ist bei Beuys keine Marotte sondern auch Mittel zum Zweck. "Auch wenn ich meinen Namen schreibe, zeichne ich", hat Beuys über den kreativen Aspekt des Unterzeichnens einmal gesagt. Durch die Signatur verschiebt sich der Massencharakter eines Multiples plötzlich und unerwartet auch in Richtung Original: die Massenware wird zum Unikat, einmalig im Hier und Jetzt.
Mit dem eigenen Namen bezeichnen bedeutet auch, Objekte und Botschaften zu autorisieren und sie mit einem Absender zu versehen, bevor sie dem Aufnehmenden entgegengehen. Gerade über die handschriftliche Markierung schreibt sich die Person des Unterzeichnenden in das Kunstprodukt ein. JBs Multiples sind immer auch Antennen, Überlebsel, Fetische, die an die Person JB erinnern und auf sie verweisen: "Ich bleibe auch dadurch mit den Menschen in Verbindung."
    Beuys Kunstschaffen ohne die Person der Künstlers zu sehen/verstehen/denken, fällt schwer. Der Künstler im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, so könnte man letztlich einen Großteil des Beuysschen Lebens/Schaffens übertiteln. Beuys war – Popstar, Künstler, Guru und Politiker zugleich – ein Mensch der Medien, gezeigt in Museen, Talkshows und auf T-Shirts. Ein Mensch, der sich gezielt der Vervielfältigung zur Verfügung gestellt hat und zielsicher an der (Re)Produktion der eigenen Person mitgefeilt hat. "Mein ganzes Leben war Werbung, aber man sollte sich einmal dafür interessieren, wofür ich geworben habe."
Fakten und Fiktionen verweben sich rund um Mastermind Beuys, immer im Dienste einer erfolgversprechenden Aura-Arbeit an und mit der eigenen Persönlichkeit: Man denke an die nebulösen Basteleien des Mythos vom Ende einer Flieger/Funker-Karriere. Der Filz, das Fett und die Tataren... oder haben sich das andere ausgedacht? Das Originäre und das Auratische, im Falle Joseph Beuys schieben sich Benjamins Begriffe vom Kunstwerk auf den Künstler. Und verbinden sich doch zu einer untrennbaren Einheit: Jeder Mensch ist ein Künstler, aber nicht jeder Mensch ein Beuys.
Walter Benjamin hat nicht ferngesehen.
Joseph Beuys war nie online.